Werte, Leadership, Entwicklung in Afrika (gekürzte Fassung)
2017 hat Rainer Gruszczynski einen Artikel in „der Freitag“ veröffentlicht, der bei Afrika-Kennern (u.a. Volker Seitz und Helmut Danner, s. „Informationen zur Vertiefung“) viel positive Resonanz hervorgerufen hat Vielleicht regt die folgende Kurzfassung des Artikels Sie dazu an, auch die Langform zu lesen: https://www.freitag.de/autoren/rainergi/werte-leadership-entwicklung-in-afrika
1. Afrika ist ein reicher Kontinent. Reich an Rohstoffen. Und reich an Menschen, die bildungshungrig und bereit sind, aus ihrem Leben etwas zu machen. Über 2 Billionen US$ Entwicklungshilfe (EH) sind seit den 1960er Jahren nach Afrika geflossen, um den Bedürftigen dort einen Zuwachs an Arbeitsplätzen und Einkommen, Bildung und Gesundheit zu verschaffen und ihnen dadurch ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wie ein Besuch in den afrikanischen Städten und Dörfern, aber auch die gegenwärtige Arbeitsmigration zeigen, sind nachhaltige Erfolge jedoch sehr überschaubar geblieben. Unbestritten ist unter Fachleuten, dass die afrikanischen Eliten dafür in hohem Maße verantwortlich sind, weil sie EH-Mittel ebenso wie Erlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen in großem Umfang in ihre privaten Taschen umgeleitet haben. Afrikakenner geben aber darüber hinaus zu bedenken, dass EH-Projekte deshalb so wenig Gutes bewirken, weil dabei die Werte der Afrikaner nicht hinreichend berücksichtigt werden.
2. Im Unterschied zum Westen, wo das Individuum, seine Stellung in der Welt und seine Entfaltung im Mittelpunkt der Philosophie stehen, werden das Denken und Handeln der Menschen in Afrika geprägt vom Wert Gemeinschaft (Großfamilie, Dorf, Region, Ethnie). Ihr ordnet der Einzelne sich unter, weil er sich ihr bis über den Tod hinaus (Ahnenkult!) zu Dank verpflichtet fühlt. Denn sie hat ihm das Überleben in einer gefahrvollen Umwelt ermöglicht, und durch sie ist er zu dem geworden, der er ist. Die Fixierung des Einzelnen auf seine Ursprungsgemeinschaft führt allerdings auch sehr oft dazu, dass er sich nicht so entfalten kann, wie es seinen Fähigkeiten entspricht. Darüber hinaus behindert sie häufig den gesellschaftlichen Fortschritt.
3. Wer in Afrika ein Unternehmen führen will, wird sehr schnell von der Großfamilie unter Druck gesetzt. Sie erwartet von ihm, dass die Beziehung ihrer Mitglieder zum Chef bei der Einstellung von Mitarbeitern an erster Stelle berücksichtigt wird. Deren Beziehung zum Patron ist wichtiger als ihre Qualifikation. Diese Einstellung erschwert auch eine Kündigung von unfähigen verwandten Mitarbeiter, denn: „Dein Bruder bleibt dein Bruder – selbst wenn er stinkt“. Unabhängig von Arbeitsverhältnissen fordern Verwandte von den Chefs selbst kleinster Unternehmern Unterstützung durch Geld oder Waren, einfach weil es diesen ja sichtbar besser geht als ihnen. Denn: Reichtum muss geteilt werden. Wer seiner Distributionspflicht nicht nachkommt, dem droht verhext zu werden – Davor haben in Afrika sogar viele Akademiker Angst. Infolge eines solchen Drucks der Familie wird es Unternehmen nach ihrer Gründung daher erschwert, zu wachsen oder sich zu konsolidieren. Man kann also sagen: Wirtschaftlicher Erfolg und unternehmerische Initiative werden in Afrika bestraft. Wer sich dem entziehen will, verlässt meist seine Heimatregion.
4. Der Erwartungsdruck der Gemeinschaft führt auch an den Spitzen von Politik und Verwaltung zu einer fehlgeleiteten Solidarität. Clans erwarten Wohltaten von Führern, die sich kraft ihres Amtes doch dem Wohlergehen der ganzen Bevölkerung verpflichtet fühlen sollten. In der afrikanischen Politik versucht man, das Problem zu mindern, indem man möglichst alle der vielen Ethnien eines Landes in der Regierung berücksichtigt. Dadurch werden Regierungen nicht nur aufgebläht und mithin sehr teuer – zumal Minister und selbst Abgeordnete der Nationalversammlung mit kostspieligen Privilegien ausgestattet sind und oft viel mehr verdienen als ihre Kollegen z.B. in Deutschland. Aber selbst in den aufgeblähten Regierungen blockieren sich Minister noch gegenseitig in ihrer Arbeit, um Vorteile für ihre Klientel herauszuholen und so ihre Macht zu sichern. Durch all dies werden Regierungen in Afrika sehr ineffizient. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass die Führer in Politik und Verwaltung ihre Herrschaft dadurch sichern, indem sie ihnen ergebene Leute in Führungspositionen hieven. Auch hier herrscht das o.e. Prinzip „Beziehung (=Loyalität) vor Kompetenz“.
5. Diese Irrwege der Solidarität mit einer Gemeinschaft sind verantwortlich für Korruption und Betrug in Afrika. In der politischen Klientel- und Vetternwirtschaft fließt denn auch viel schwarzes Geld. Anders als in Ländern wie z.B. Deutschland ist das meist kaum gefährlich. Denn in Afrika können sich Straftäter auch bei Korruption und Betrug in Regierungsämtern häufig noch auf eine Kultur der Vergebung verlassen. Es ist für die Bürger dort normal, dass Politiker zuallererst mal „an die Fleischtöpfe“ wollen. Und der südafrikanische Präsident Jacob Zuma, der viele hundert Millionen US$ in seine privaten Taschen umgeleitet hatte, konnte in der Öffentlichkeit zum Besten geben, dass Korruption „Teil der afrikanischen Kultur“sei, ohne dass ein Aufschrei der Empörung durchs Land ging. Toleranz aber gegenüber Wirtschaftskriminellen verhindert mit Sicherheit Entwicklung.
6. Letzteres gilt auch bei der immer wieder aufgedeckten Selbstbereicherung der Eliten an den Rohstoffen ihres Landes. Um an die „Fleischtöpfe“ zu kommen, schrecken Politiker nicht einmal davor zurück, „ihre“ Ethnien zu instrumentalisieren, indem sie diese in einen Krieg gegen „die anderen“ hetzen. Zurzeit ist dies z.B. in Südsudan der Fall. Dort geht es um den Zugang zum Erdöl und die Gewinne aus seinem Verkauf. Eine solche Instrumentalisierung von Ethnien bis hin zu Rassismus, Stammesfehden und Bürgerkrieg gelingt deswegen so leicht, weil der Verbundenheit und der Solidarität der Mitglieder mit ihrer „eigenen“ Gemeinschaft ein verengtes Verständnis von Identität entspricht. Man gewährt dem Einzelnen Sicherheit im Inneren und grenzt sich gleichzeitig nach außen ab. Dies gilt auch für das Verhältnis zu Fremden, die wie Entwicklungs“helfer“ aus einer anderen Welt mit anderen Werten kommen und ihre „vernünftigen“ Konzepte präsentieren.
7. Entwicklung ist kein technisch-wirtschaftliches Problem, sondern ein gesellschaftliches Projekt. D.h., die Afrikaner müssen dabei mitgenommen und beteiligt werden. Das setzt einen öffentlichen Diskurs auch unter dem Palaverbaum in den afrikanischen Dörfern voraus. Im gesellschaftlichen Diskurs könnte sich dann herausstellen, ob die Afrikaner wirklich nur den Westen kopieren wollen. Und wenn dies der Fall ist, welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind. Denn auch im Westen hat Entwicklung dazu geführt, dass sich mit der kapitalistischen Produktionsweise z.B. der Umgang der Menschen miteinander in Städten und Dörfern, in Familie und Arbeitswelt, das Erscheinungsbild der Natur und ihre ökologischen Systeme radikal verändert haben. Das, wofür im Westen mehr als 250 Jahre gebraucht wurden, kann nicht einfach von außen herbeigeführt werden. Menschen und Länder können sich nur selbst, von innen heraus entwickeln. Das würde bedeuten: Fachleute aus den armen Regionen ermitteln im Gespräch mit den Betroffenen Bedarfe, formulieren Ziele und Maßnahmen, veranlassen deren Umsetzung und verantworten die Ergebnisse vor den Wählern. Sie kennen die regionalen Sitten, die Mentalität, die gesellschaftlichen Leitbilder derer, die von Entwicklung profitieren wollen. Ihnen würde es am ehesten gelingen, überlieferte Vorstellungen der Zielgruppen gegebenenfalls an die Erfordernisse der Moderne anzupassen.
8. Damit solche Entwicklung von innen geschehen kann, bedarf es glaubwürdiger Führer in Politik und Gesellschaft, denen das Wohlergehen der Bürger, auch der Armen, am Herzen liegt. Mit denen könnten sich die Bürger identifizieren, und zwar über die Grenzen ihrer Herkunftsgemeinschaften /ihrer Ethnien hinaus. Solche Führer könnten dazu einladen, die Grenzen der Identität der Mitglieder einer Gemeinschaft zu erweitern und bei ihnen einen Patriotismus entstehen zu lassen, der eine Fokussierung auf nationale Vorhaben erlaubt. Solche Führer sind in Afrika aber sehr rar. Den meisten Angehörigen der Eliten sind die Armen sogar egal. Sie brauchen sie auch kaum als Wahlvolk. Denn mit dem Geld, das sie sich auf betrügerische Weise verschafft haben, lassen sich auch problemlos Wählerstimmen für ihre Wiederwahl kaufen – sogar die ganzer Dörfer, wenn deren Einwohner ungebildet und/oder sehr arm sind. Demokratie gibt es unter solchen Bedingungen nur zum Schein.
9. Integre Führer würden Reformen einleiten, die die Arbeit von Regierung, Verwaltung und Justiz mehr und mehr transparent und gesetzestreu werden lässt. Z.B. durch Checks and Balances. Mit Reformen dieser Art, vor allem durch die dann entstandene Rechtssicherheit, würden sie die Institutionen, die für den Aufbau eines demokratischen Staates wichtig sind, in ihrem Land stärken. Auf diese Weise würden sie das Investitionsklima dramatisch verbessern und die Anzahl der Arbeitsplätze sowie die Pro-Kopf-Einkommen in ihrem Land deutlich erhöhen. Dadurch könnten sie sich schrittweise unabhängig machen von Entwicklungshilfe und damit Korruption und Betrug den Nährboden entziehen, was dem Bruttoinlandsprodukt zusätzlichen Auftrieb verliehe. Zudem könnten mit dem dann erhöhten Steueraufkommen auch mehr Mittel bereit stehen für das Angebot öffentlicher Leistungen, z.B. für Gesundheit und Bildung. – Ein Ansatz dieser Art wurde von Spitzenökonomen wie Deaton und Collier wissenschaftlich begründet und belegt. Und Länder wie Botswana sowie mit Einschränkungen auch Ruanda haben den Beweis dazu in der Praxis angetreten. Insbesondere trifft das auch auf die Aussage zu, dass der Entzug von EH einen positiven Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ausübt.
10. Weil mit EH-Geldern die Macht korrupter Regierungen gestärkt und damit in ihren Ländern die Möglichkeit finanziert wird, nichts für ihre Bevölkerungen zu tun, fordern international anerkannte Wirtschaftswissenschaftler auch aus Afrika seit vielen Jahren schon: Bitte schickt uns kein Geld. Denn anders als bei Steuermitteln, kontrollieren die Bürger die „Rechenschaftslegung“ ihrer politischen Führer nur mäßig, weil diese zu einem Großteil doch „nur fremdes Geld“ ausgeben. Zudem bleiben deren Untätigkeit, Betrug und Misswirtschaft meist ohne Konsequenzen (s.o., Stimmenkauf).
11. EH ist in Afrika zu einer Droge geworden. Wenn deren Wirkung – aufgrund der Unkenntnis ausländischer Planer oder fehlender Nachhaltigkeit der Projekte oder betrügerischer Aktivitäten der Eliten - verpufft ist, braucht und erhält man dort seit mehr als 50 Jahren immer wieder neuen „Stoff“. Deswegen ist es sinnvoll, diesen „erprobten“ Kreislauf zu verlassen und Afrika, wie der Nobelpreisträger Deaton es fordert, ganz einfach mal in Ruhe zu lassen. Dann könnte Afrika endlich zu sich selbst kommen und ein eigenes Entwicklungsmodell finden, in dem es seine eigenen Werte berücksichtigt.
Nachtrag: Vielleicht entsteht in Afrika dann ein Modell, das ganz anders ist als das kapitalistische der reichen Länder, die sich mehr und mehr in zerstörerische Widersprüche verwickeln. Möglicherweise aber hätten die bisherigen „Geberländer“ genau davor Angst, denn es könnte ihre Art zu wirtschaften und zu leben in Frage stellen sowie ihre Absatzmärkte gefährden. Und deswegen werden sie wohl weiter Entwicklungs“hilfe“ leisten und die Probleme, die sie angeblich beseitigen wollen, in Wirklichkeit nähren.
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