Felwine Sarr, Afrotopia - Eine Rezension

Als Felwine Sarrs Afrotopia Januar 2019 in deutscher Ausgabe erschien, haben viele überregionale Zeitungen darauf sehr positiv reagiert. Mit Recht! Denn der senegalesische Ökonom und Philosoph

ist nicht nur ein international anerkannter Theoretiker des Postkolonialismus, der in seinem Buch entschieden dafür plädiert, dass Afrika sich aus der geistigen und wirtschaftlichen Umklammerung durch den Westen befreit. Er fordert darin seinen Kontinent auch ebenso entschieden dazu auf, seinen eigenen Weg zu finden, den Herausforderungen der Moderne zu begegnen. Und das vor allem aus eigener Kraft! Bevor Sarr aber eine „aktive Utopie“ für Afrika entwirft, betreibt er in seinem Essay erst einmal

die Fortsetzung des Projektes Dekolonisation des Denkens, die der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o in einem Buch gleichen Titels schon 1986 leidenschaftlich für den Kontinent eingefordert hatte.

 

Sarrs Rückgriff auf Ngũgĩ wa Thiong’o Ngũgĩ verfolgt darin in erster Linie das Anliegen, den Gebrauch von Sprachen der ehemaligen Kolonialherren in Literatur, Bildungsinstitutionen, aber auch in der Offentlichkeit zurückzudrängen; stattdessen sollen tradierte afrikanische Sprachen in diesen

gesellschaftlichen Feldern ausdrücklich gepflegt und gefördert werden, mithin auch ein stärkeres Gewicht im täglichen Leben von Afrikanern erhalten. Diesen Fokus setzt Ngũgĩ nicht nur als afrikanischer Schriftsteller, der tradierte afrikanische Sprachen in ihrer Funktion als Kommunikationsmittel stärken möchte. Er will sie vor allem auch als Träger einer besonderen Kultur würdigen und fördern, die das Bewusstsein der Sprechenden und ihren Umgang miteinander ausdrückt und formt und ihnen dabei gleichsam beiläufig einen Zugang zu ihrer kulturellen DNA bahnt. 

 

Sarr macht sich in Afrotopia Ngũgĩs Anliegen ausdrücklich zu eigen. Er will aber darüber hinausgehen. Auch Wirtschaft, Wissenschaft, Regierung und Verwaltung möchte er auf umfassende Weise von westlichen Einflüssen befreien und das Verhalten in diesen Institutionen ebenso umfassend von Werten bestimmen lassen, die in der Tradition der Afrikaner ihren Ursprung haben. Sein Projekt soll die „eigene Soziokultur zum Ausgangspunkt“ haben „und aus ihrem eigenen mythologischen Universum, ihrer eigenen Weltsicht“ hervorgehen. – Selbst die „erkenntnistheoretische Entfremdung“ der Forscher in Afrika will Sarr dabei überwinden und damit der „Hegemonie westlicher Denktraditionen“  ein Ende setzen. Gleichwohl plädiert er für eine „selektive Eingemeindung“ von ursprünglich fremden Praktiken und Institutionen, sofern sie mit afrikanischen Werten kompatibel sind.

 

Selbstbestimmtes Handeln durch ein positives Selbstbild der Afrikaner 

 

Bei all dem geht es Sarr nicht nur um eine Emanzipation des Kontinents vom Westen, sondern um einen Gegenentwurf zur globalisierten, vom westlichen Denken bestimmten Wirtschaft und ihrer nationalen und internationalen Institutionen sowie namentlich um die „Entmystifizierung Europas“. Darüber hinaus will er Afrikanern eine Alternative bieten zum westlichen „Fortschrittsmythos“, zu Konsumismus und Wachstumswahn eines entfesselten Kapitalismus. Insbesondere der im westlichen Modell herrschenden bloß instrumentellmechanistischen Vernunft in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft steht er ablehnend gegenüber. Denn dort bleibe die Sinnfrage, deren Beantwortung jedoch alles Handeln rechtfertigen müsse, unbeantwortet. Und deshalb sei diese Art von Vernunft gefährlich für Afrika und die Welt. Sie müsse daher um eine spirituelle Dimension erweitert werden, damit afrikanische Gesellschaften „zu ihrem ursprünglichen Sinn“ zurückfinden können, „der in der Bestimmung angemessener Zwecke besteht.“

 

Sarr steht mit solchen Gedanken in einer Reihe mit Frantz Fanon, seinem großen Vorbild, der den durch Kolonialismus und Sklaverei gedemütigten und psychisch deformierten Afrikanern ihr Menschsein zurückgeben wollte und nicht zuletzt aus diesem Grunde die befreiten Kolonialstaaten aufforderte, sich neu zu erfinden, statt sich in „fratzenhafte(r) und obszöne(r) Nachahmung“ zu erschöpfen. Die Kritik, die in dieser Aufforderung steckt, wurde auch in der afrikanischen Belletristik schon vor Beginn der Unabhängigkeit afrikanischer Länder verfolgt, z.B. von Chinua Achebe, oder danach vom Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Und neben anderen gegenwärtigen Schriftstellern hat der im Mai dieses Jahres verstorbene Binyavanga Wainaina aus Kenia sich ebenfalls dieses Themas angenommen. Dass afrikanische Machthaber das von ihnen einst kritisierte Verhalten und den Lebensstil sogleich

von ihren ehemaligen Kolonialherren übernommen haben und dass sie diese „Tradition“ bis in die Gegenwart fortführen, nährt diese Kritik auch heute noch zusätzlich.

 

An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Sarrs Ansatz mit Emanzipation und Abgrenzung noch nicht hinreichend beschrieben ist. Denn mit dem Bezug auf Frantz Fanon und dessen Verdammung der Imitation des Westens wird zugleich deutlich, dass all das, was Sarr in sein Bild von Afrotopia einwebt,

überwölbt wird von dem Ziel, Afrikanern zu einem positiven Selbstbild zu verhelfen und die „Subalternität hinter sich (zu) lassen“. Es sei das daraus erwachsende Selbstbewusstsein, was es ihnen ermöglichen werde, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, ihren Kontinent in eigener Verantwortung

aufzubauen sowie sich gleichberechtigt an der „Entwicklung der Menschheit“ zu beteiligen.

 

Drei kritische Hinweise

 

Das bis hierher Geschilderte macht deutlich, dass Sarr mit Afrotopia versucht, ein sehr weitreichendes und ehrgeiziges gesellschaftlich-zivilisatorisches Projekt anzustoßen, mit dem auseinanderzusetzen sich wirklich lohnt. Trotz der vielen Denkanstöße, die er gibt, darf aber nicht übersehen werden, dass einige

wichtige Aspekte seines „Möglichkeitstraumes“ durchaus zu hinterfragen sind. Nur drei davon möchte ich herausgreifen: 

 

1. Zweifellos ist es nachvollziehbar, wenn Sarr dem „Wiederaufbau der eigenen psychischen Infrastruktur“ der Afrikaner Priorität einräumt, nachdem diese Sklaverei und Kolonialismus

erlitten haben. Nachvollziehbar ist es auch, wenn er sagt, „man muss sich selbst als eigenes Epizentrum wiederherstellen“. Beides ist im Prozess der Gesundung der Psyche eines Individuums, aber auch der

eines Landes oder Kontinentes hilfreich, ja notwendig. Dazu passt auch, dass Sarr hervorhebt, der „wirkliche Fortschritt“ bei der Annäherung an seinen Zukunftsentwurf könne nur erzielt werden, wenn sich die Akteure der „Erinnerungsarbeit“, der „Arbeit an der Geschichte und an der Versöhnung

mit den vielfältigen Quellen der eigenen Identität“ stellen. Wenn er dann aber ins Detail geht, nimmt er fast ausschließlich die Sonnenseiten afrikanischer Geschichte in den Blick: das „goldene Jahrtausend“ (Fauvelle) vor Kolonisation und Sklavenhandel einerseits sowie andererseits die Kämpfe gegen Rassismus und Kolonialismus. Zur Wahrheit, die er dabei unterschlägt, gehört leider auch die Tatsache, dass afrikanische Führer zur Zeit des Sklavenhandels kräftig daran mitgewirkt und mitverdient haben.

 

Mit solcher einseitigen Pflege positiver Erinnerungen verfolgt Sarr zwar das lobenswerte Ziel, „den afrikanischen Menschen als Produzent(en) von Kultur und Zivilisation“ zu würdigen. Dennoch könnte es sich als unklug erweisen, wenn er Schattenseiten afrikanischer Geschichte ausblendet oder allenfalls

streift. Denn dann verspielt er die Chance, sie gesellschaftlich und politisch aufzuarbeiten. Und damit beschwört er die Gefahr herauf, dass sie im kollektiven Gedächtnis weiter virulent sind und irgendwann in gesellschaftlich-politischer Praxis erneut oder auch „nur“ zusätzlich an Zerstörungskraft gewinnen und die sich entwickelnde Zukunft stören und deformieren. Wole Soyinka hat schon 1999 in seinem Buch über „Die Last des Erinnerns“ auf Zusammenhänge dieser Art sehr eindrucksvoll hingewiesen.

 

2. Zu den von Sarr stark vernachlässigten oder verharmlosten Schattenseiten der jüngeren afrikanischen Geschichte gehört auch das bereits erwähnte Versagen der afrikanischen Eliten seit Beginn der Unabhängigkeit. Mit Blick auf die Zukunft sollte man aber durchaus in Erinnerung behalten, dass sich eine stattliche Anzahl afrikanischer Staatsführer seitdem in einem Riesenumfang auf betrügerische Weise zu Lasten ihrer Bevölkerungen bereichert hat - vor allem im Zuge des Ausverkaufs von Ressourcen des Kontinents sowie an Entwicklungshilfezuwendungen. Wenn Sarr solches jedoch übergeht, vernachlässigt er zugleich den Umstand, dass diese vielen Kleptokraten die Verantwortung tragen für das Elend, an dem eine große Mehrheit der Afrikaner heute zu tragen hat. Neben Armut sind hier Willkür, Gewalt, Kriege und Flucht zu nennen. 

 

In diesem Kontext schon könnten Sarrs Leser bemerken, dass viele afrikanische Führer der Gegenwart nur dann Krokodilstränen weinen, wenn sie die Skrupellosigkeit von Sklavenhändlern und Kolonisatoren anprangern, mit der diese Leid über afrikanische Menschen gebracht haben.

 

Das Eliteversagen deutlich zu geißeln ist auch deswegen unerlässlich, weil es zu einem Großteil strukturell-systemisch bedingt ist. Insbesondere deswegen, weil afrikanische Bürger heute zwar über Korruption und Betrug ihrer Führer klagen, gleichzeitig aber von Klientelismus, Nepotismus und Alimentationspflicht der Besitzenden profitieren wollen. Diese Phänomene haben eine lange Tradition in Afrika. Und weil sie die Selbstbereicherung sowie die daraus folgende Verelendung der Gesellschaft begünstigen, bilden sie zudem ungewollt die Schatten der ansonsten von Sarr zu Recht gelobten Solidaritätsnetzwerke. Vor allem aber dienen Klientelismus, Patronage und Alimentationspflicht

den afrikanischen Führern als Legitimationsgrundlage für Bereicherung durch Korruption und Betrug. Deswegen haben sie in mehr als 50 Jahren Unabhängigkeit und Verantwortung auch nur selten den Versuch unternommen, diese Phänomene zu bekämpfen. „Korruption ist Teil der afrikanischen

Kultur“, so Jacob Zuma vor seinem Abgang als Präsident.

 

Statt all dies deutlich zu benennen, schildert Sarr in seinem Buch wiederholt – und zu Recht! - die „Plünderung“ der Ressourcen sowie die „wirtschaftliche Rekolonisierung der Länder durch ihre ehemaligen Kolonialmächte“, um dann aber nur sehr kurz zu verweisen auf die „Rolle, die eine mangelhafte nachkoloniale Regierungsführung sowie die schlechten Entscheidungen afrikanischer

Machthaber gespielt haben.“ Wenn er dann verneint, dass er mit dieser doch unausgewogenen

Schuldzuweisung keineswegs beabsichtigt, „der eigenen Verantwortung auszuweichen“ und an anderer Stelle - entschuldigend - erwähnt, dass „manche“ Staatsführer in Afrika gescheitert seien, „weil sie

die Reichtümer ihres Landes zum Vorteil des eigenen Clans geplündert haben“… und wenn fünf Seiten weiter noch die afrikanischen Zivilgesellschaften indirekt für die schlechte Regierungsführung mit in Haftung nimmt, indem er suggeriert, dass den Politikern „womöglich“ „geholfen wäre“, wenn diese bürgerlichen Kontrollorgane „ein deutlicheres Bewusstsein dessen“ an den Tag legten, was mit den politischen Entscheidungen auf dem Spiel steht …. ja, dann ist nicht auszuschließen, dass er, ungewollt zwar, aber dennoch genau das Denken bedient, was in die afrikanische Misere geführt hat.

 

3. Ein weiterer blinder Fleck zeigt sich in Sarrs Empfehlung an die Afrikaner, auf Familienplanung

und Geburtenregelung zu verzichten, damit die „demographischen Verluste“, die Afrika durch die Sklaverei entstanden sind, ausgeglichen werden können. So eine Aussage ist in unseren Tagen kaum

auszuhalten Und zwar deswegen nicht, weil die afrikanischen Länder bis heute offensichtlich

nicht einmal in der Lage sind, der großen Mehrheit der Bevölkerung eine lohnenswerte

Perspektive zu bieten oder auch nur deren Grundversorgung zu garantieren. Die Rede ist hier von Nahrung, Bildung, Gesundheit, Arbeitsplätzen und einem gewissen Wohlstand. Die Wirtschaft wächst zwar in den meisten Ländern Afrikas, aber infolge der Bevölkerungszunahme wachsen dort nur

selten Pro-Kopf-Einkommen und Lebensqualität merklich mit – weder der private Pro- Kopf-Konsum noch die öffentlichen Dienstleistungen. Solange jedes Jahr aus diesem Grunde Millionen von Afrikanern ihren Kontinent verlassen wollen, oder anders gesagt: solange afrikanische Länder die Fluchtwilligen

nicht halten wollen, sie zum Teil sogar zur Flucht ermuntern, sodass die Sehnsuchtsländer die Folgen afrikanischer Bevölkerungspolitik tragen müssen – solange ist Sarrs Empfehlung unverantwortlich. Damit sollen die „demographischen Verluste“ keineswegs kleingeredet werden. Aber angesichts einer Verdoppelung der heutigen Population in Afrika auf 2 Milliarden Menschen, die die UN bis 2050 erwarten,

und angesichts eines Anwachsens der Weltbevölkerung bis dahin auf rund 10 Milliarden Menschen ist ein Umdenken zwingend notwendig. Denn die Menschen erwarten auch in Zukunft überall zu Recht, dass zumindest ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden, aber auch, dass sie eine wirtschaftlich und politisch attraktive Perspektive haben und dass sie unseren Planeten trotz ihres ökologischen Fußabdrucks auch in 30 Jahren noch gern bewohnen.

 

Im Übrigen ist festzuhalten: Am Bevölkerungswachstum könnte eine gelungene Annäherung an Afrotopia scheitern, denn die vielen neugeborenen Menschen müssten sehr bald schon mit allem Nötigen versorgt

werden, damit sie so produktiv sein könnten, dass dieses Ziel auch zu verwirklichen ist. D.h., die materiell-technische, die wirtschaftliche, die politische und eine gute soziale Infrastruktur, die Sarrs

Zukunftsentwurf auszeichnen sollen, müssten schon vorhanden sein, bevor z.B. Traumprojekte wie seine Zukunftsstadt überhaupt entstehen können.

 

FAZIT: Die vorgebrachten und weitere, bisher nicht genannte Einwände sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass Felwine Sarr mit Afrotopia einen beeindruckenden Versuch unternimmt, Hoffnungen auf seinem Heimatkontinent zu wecken, dort Erwartungen zu formen und, wenn es sehr gut läuft, produktiven Entscheidungen eine Richtung zu geben. Es wäre ihm zu wünschen, dass er dort die für sein Projekt nötige Aufbruchsstimmung erzeugt, indem er Afrikanern Mut macht, die Gestaltung ihrer

Zukunft selbst anzupacken, statt auf Hilfe von außen zu warten. Damit wäre auch eine wichtige Botschaft logisch verbunden, die Sarr in seinem Essay zwar unerwähnt lässt, jedoch in verschiedenen Zeitungsinterviews bekundet hat: Die Entwicklungshilfe müsste in Afrika zum Auslaufmodell erklärt werden! Diese Botschaft allein schon rechtfertigt das Buch. Denn mit dem Verzicht auf Entwicklungshilfe würde dort Korruption und Betrug in erheblichen Maße Treibstoff entzogen. Sodass die Chancen auf eine gute Regierungsführung und in der Folge auch die zur Verwirklichung von Sarrs „Möglichkeitstraum“ deutlich ansteigen könnten. Ein Selbstläufer wäre Sarrs Projekt aber auch dann noch nicht. Nicht nur, weil es sehr umfassend und ehrgeizig angelegt ist. Heftige Widerstände könnten vor allem sehr schnell aus der eigenen Bevölkerung kommen, die ihre Konsumträume eben nicht einfach mal

aufgibt, um einer kapitalistischen Entfremdung zu entkommen. Schon hier könnte sich zeigen, wie Ursula Menzer im Deutschlandfunk zu bedenken gegeben hat, „ob dieses Konzept einen zukunftsweisenden Weg oder eine idealistische, letztlich rückwärtsgewandte Utopie formuliert“. 

 

Rainer Gruszczynski

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